Mittlerweile kennen die meisten meiner KlientInnen meine persönliche Essstörungs-Vergangenheit. Dazu trug wesentlich die Veröffentlichung meines Buchs „Essanfälle adé“ bei.

Buch „Essanfälle adé“ online kaufen*

Doch das war nicht immer so.

Vor der Buch-Veröffentlichung konnte man hier auf dem Blog nur zwischen den Zeilen lesen, dass ich früher selbst betroffen war. Damals teilte ich meine Geschichte vor allem in persönlichen Gesprächen in meiner Praxis. Vor allem wenn ich das Gefühl hatte, dass eine Klientin ein bisschen Mut gebrauchen konnte.

Was?! Sie hatten eine Essstörung?

Oft kam dann ein ungläubiger Blick: „Was? Sie hatten Esssucht? Wirklich? Das kann ich gar nicht glauben!“

Viele können sich nicht vorstellen, dass ein Mensch, der heute ausgeglichen und zufrieden wirkt, früher eine psychische Krankheit hatte.

Ich kann von mir sagen: Ich wirke heute ausgeglichen und zufrieden, WEIL ich eine Essstörung hatte. Ohne meine Essstörung hätte nicht die Notwendigkeit bestanden, an mir zu arbeiten, mein Leben zu sortieren und mich zu verändern.

Der Beginn meiner Essstörung

Ja, ich war bin eine ehemalige Betroffene.

Ja. Ich war süchtig nach Essen. Und wie!

Richtig begann es, als ich 21 Jahre alt war, also 1993.

Mein damaliger Freund hatte mich zuerst betrogen und dann verlassen. Nach einem Urlaub mit Freundinnen – ich weiß es noch wie heute – passte meine Hose nicht mehr.

Bevor mein Freund mich verließ, gelang es mir, mich beim Essen stark zu disziplinieren. Aufgrund meines Liebeskummers war mir das nicht mehr möglich. Im Urlaub trank ich viel zu viele Cocktails und aß anfallsmäßig all das, was ich mir zuvor verbot.

Es sind nun mal die Süßigkeiten, die das Leben versüßen und nicht Karotten mit Hüttenkäse. Und ich konnte damals einiges an Versüßung vertragen.

So konnte das nicht weiter gehen! Ich durfte unter keinen Umständen mein zuvor mühsam verlorenes Gewicht wieder zulegen! Also setzte ich mich wieder einmal auf strenge Diät.

Wobei der Liebeskummer der Auslöser war, bestimmt nicht die Ursache. Der Hang zum zwanghaften Essen schlummerte schon wesentlich länger in mir.

Der Teufelskreis nahm seinen Lauf

Ich war mir ganz sicher zu wissen, wie ich erfolgreich abnehmen kann. Ich musste einfach nur soundsoviel Kalorien essen, vor allem Obst und Gemüse, kein Fett, kein Zucker. Das klappte ein paar Tage lang super. Ich nahm ab,  fühlte mich stark, erhaben, zielsicher. Wollte alle überzeugen, von meiner tollen, gesunden, vitalen Art zu leben.

Das hielt ich dann max. 10 Tage durch.

Dann kam er, der Fressanfall mit allen verbotenen, fetten, kalorien- und zuckerreichen Lebensmittel. Ich fühlte mich als unfähig, disziplinlos und schämte mich für mein maßloses Versagen. 

Ich schrieb massenweise Diätpläne in mein Tagebuch. Alle hielt ich super ein um sie bald darauf wieder zu brechen.

Es wurde immer schlimmer

Körperlich fand ich mich immer zu dick und aufgeschwemmt. Immer fühlte mich unwohl in meinem Körper. Oft plagten mich sehr schmerzhafte Blähungen und der damit verbundene harte Blähbauch.

Ich genierte mich baden zu gehen. Eigentlich genierte ich mich immer für was ich war.

Geistig fühlte ich mich wie benebelt. Ich war ständig in Gedanken beim Essen und vor allem beim was ich alles nicht essen durfte.

Psychisch ging es mir sehr schlecht. Ich wollte nach dem Einschlafen nicht mehr aufwachen. Sterben, im Sinne von mich umbringen wollte ich aber glücklicherweise ganz und gar nicht.

Ich zwang mich zum Sport und hasste es. Ich war tot müde, manchmal extrem antriebslos.

Ich war traurig. Ich war unglücklich, unzufrieden. Ich hasste mich. Ich hasste mein Leben. Ich war einsam (obwohl eigentlich fast ständig in Beziehung).

Nach außen hin führte ich ein normal erfolgreiches Leben, schloss „brav“ mein Studium ab und so weiter.

Die Wende

Die Wende brachte eine Studien Kollegin, als ich 24 Jahre alt war, also 1996. Sie gab mir ein Buch über Bulimie.

Zunächst dachte ich: Ich habe bestimmt keine Essstörung. Ich habe nur ein kleines Problem mit dem Essen. Außerdem breche ich nicht und mager bin ich auch nicht. Damals wusste ich nicht noch nicht, dass es auch andere Formen der Esssucht gab, nämlich Binge Eating oder Bulimie non-purging-type.

Ich las das Buch und hatte zum ersten Mal die Erkenntnis: Hey, wow! Da steht ja mein Verhalten beschrieben. Was für eine Erleichterung!

Wobei „Wende“ bei weitem nicht hieß, dass ich ab da keine Essanfälle hatte, ganz und gar nicht. Dieses Buch war lediglich der Anfang vom Weg aus der Esssucht, der allererste Schritt.

Mein Weg aus dem Teufelskreis begann

Es mussten noch viele Schritte folgen. Welche genau, können Sie in meinem Buch: Essanfälle adé * nachlesen.

Buch „Essanfälle adé“ online kaufen*

Es dauerte Jahre, bis ich meine Essanfälle nicht mehr benötigte, um mein Leben zu bewältigen.

Dennoch hatte ich meine Identität noch nicht gefunden.

Ich war so viele Jahre „Olivia mit Essanfällen“, dann „Olivia ohne Essanfälle“.

Aber wer war Olivia?!?!

Rückblickend begann dann, ab dem Jahr 2000 der wirklich spannende Weg meiner Lebensreise, nämlich die echte Identitätssuche.

Ich machte Therapie, begann mich beruflich weiterzuentwickeln und umzuorientieren.

Und hier stehe ich heute.

Olivia Wollinger

Kann man die Esssucht überwinden?

Mich fragen Klientinnen immer wieder: Kann man die Esssucht überwinden?

Ja, man kann!

Aber ich möchte Ihnen nicht verheimlichen, dass der Weg einiges an Herausforderungen parat hält.

Unter anderem geht es darum,

… der Angst vor den Veränderungen zu begegnen, statt vor ihr wegzulaufen.
… um die Bereitschaft, sein Leben ehrlich anzusehen.
… sich mutig auf Änderungen einzulassen, sobald sie anstehen.

Ich kann leider nicht versprechen, dass der Weg einfach wird. Ich kann nur versprechen, dass es sich lohnen wird.

Wichtig für den Weg

Wichtig für den Weg finde ich:

  • Weitergehen, einen Schritt nach dem anderen.
  • Sich professionell helfen lassen und den Weg gemeinsam gehen, vor allem in Zeiten des Zweifels.
  • Realistisch bleiben, also sich keine raschen Ergebnisse erträumen sondern langfristige Änderungen anstreben.
  • Sich ermuntern mit Sätzen wie: Das wird alles seinen Sinn haben, auch wenn ich ihn jetzt noch nicht sehen kann.

Der Weg braucht ein konsequentes, regelmäßiges Üben, ein stetiges Dranbleiben, er braucht Kontinuität, Motivation und eine Menge Mut.

Das Leben ohne Essstörung

Ich habe heute keine Essanfälle mehr.

Wenn ich heißhungrig bin – ja, manchmal kommt das auch heute noch vor –  überlege ich mir in Ruhe, was ich mir wünsche.

Dann gehe ich beispielsweise zum Café meines Vertrauens und bestelle mir die Schokotorte mit Schlagobers, esse sie auf und gut ist es.

Die Unterschiede zu damals?

Der Heißhunger übermannt mich nicht mehr. Er fühlt sich eher an wie starker Appetit. Es besteht kein Essdruck mehr.

Ich entscheide mich. Bewusst. Ich könnte mich auch dagegen entscheiden, wenn ich wollte. Will ich aber nicht.

Ich habe kein schlechtes Gewissen sondern erfreue mich an den Gaumenfreuden und an die Entspannung und Ruhe die mir dieser Zuckerschub bringt.

Ich „inhaliere“ den Kuchen nicht, sondern kann ihn Bissen für Bissen schmecken und genießen.

Ich mache es öffentlich. Mir kann jeder bei meinem Schlemmeranfall zusehen. Ich stehe dazu.

Ich habe nicht mehr die Angst, dass mir in der Sekunde die Oberschenkel und das Doppelkinn anwachsen. Es ist alles wie vorher, nur dass eben ein dickes Stück Torte in meinem Magen liegt.

Ich höre nach dem Stück auf, wenn es denn genug war. Wenn nicht, würde ich mir glatt ein zweites bestellen, normalerweise schaffe ich das aber nicht. Ich höre also auf meine Bedürfnisse und handle danach, auch in Phasen des Heißhungers. Ich darf alles, wofür ich mich entscheide und was ich wirklich möchte.

Ich brauche mich nicht mehr zu kontrollieren. Ich höre auf meinen Körper und gebe ihm freiwillig, was er möchte. Ich bin in ständigem liebevollen Kontakt mit meinem Körper.

Ich mache am nächsten Tag keine Diät sonder schaue – wie immer – was mein Körper gerade benötigt.

Ja, meine Esssucht ist vorbei.

Nein, ich führe deswegen kein Leben ohne Probleme.

Ja, ich muss nach wie vor an mir arbeiten.

Ja, es kommen immer wieder Themen hoch (und immer wieder und immer wieder), die ich schon bearbeitet habe aber scheinbar noch nicht genug.

Ja, das Leben fordert mich manchmal nach wie vor heraus, und wie!

Ja, es gibt Momente, in denen ich mich total unrund fühle. Wo ich mich frage: Muss das denn sein? Jetzt bist Du schon so erfahren und tappst noch immer in die gleiche Falle? Dann kann ich mich schon ganz schön über mich selbst ärgern.

Oder ich verkrümel mich ins Bett und ziehe die Decke bis zur Nase und tu mir selbst mal so richtig leid. Manchmal braucht wohl jede/r Pause vor sich selbst, schließlich verbringen wir ja das ganze Leben mit uns selbst 🙂

Wobei, wenn ich diese heutigen down Stimmungen mit den damaligen vergleiche … da ist ein Vergleich eigentlich gar nicht möglich. Ich würde sogar so dreist sein und behaupten, dass ich mich in meinen heutigen down-phasen ungefähr so fühle, wie in meinen damaligen besseren Phasen.

Früher wechselte sich totale Tiefs mit totalen Hochs ab, mal so, mal so, kaum etwas dazwischen. Heute ist mein Leben ausgeglichener, die Freude ist stiller, dafür tiefer und anhaltender.

Die Down-Phasen auf der anderen Seite kommen nicht mehr als riesen Drama daher. Sie sind eben da, manchmal. Und sie gehen auch wieder, garantiert.

Ich schaue hin. Ich verdränge nicht mehr durch ständige Essanfälle. Ich stelle mich meinen Gefühlen und handle adäquat. So weit es mir möglich ist, mit meinem aktuellen Wissen und meinen aktuellen Erfahrungen.

Und wachse. Jeden Tag aufs Neue.

In Summe führe ich heute ein glückliches, ausgeglichenes, aktives Leben.

Olivia Wollinger in ihrer aivilo Praxis zeigt das Buch "Essanfälle adé"

Ich habe gelernt zu sehen, die Schönheiten des Augenblicks, des Tages und dieses Lebens. Meine Schönheiten, die Schönheiten anderer Menschen.

Ich habe meinen Sinn des Lebens gefunden.

Ohne Esssucht hätte ich diesen Handlungsdruck nicht gehabt. Ohne Esssucht wäre ich nicht gezwungen gewesen, mich selbst zu entdecken und zu suchen und zu finden, was mich glücklich macht.

Wer weiß, was ich dann für ein Leben geführt hätte?

Heute begleite ich andere Frauen mit emotionalem Essverhalten, beispielsweise in meinen „Essanfälle adé“ Workshops. Meine Klientinnen schätzen es, dass ich nachvollziehen kann, wie sich Esssucht anfühlt. Und wie ich das nachvollziehen kann!

Ich kenne diesen angstvolle Blick, die angstvolle Frage: „Wird dieser Horror jemals enden?“

Ja! Es ist möglich!